Tony Cokes: Evil.13 (The Triumph of Evil), 2006, 9 Min.

Courtesy the artist, Greene Naftali, New York, Hannah Hoffman, Los Angeles, Felix Gaudlitz, Vienna, and Electronic Arts Intermix, New York

Tony Cokes (geboren 1956 in Richmond, Virginia) arbeitet mit Sound und Text. Er kombiniert in den Videos seiner Evil-Series (seit 2003) ikonische Songs der Musikgeschichte mit Textfragmenten historischer Ereignisse auf farblich wechselnden Hintergründen. In Evil.13 (The Triumph of Evil) (2006) konfrontiert Cokes das Transkript einer Pressekonferenz des US-amerikanischen Außenministeriums zum Völkermord in Ruanda aus dem Jahr 1994 mit Songs der Grunge-Band Nirvana.

The Triumph of Evil (Der Triumph des Bösen) bezieht sich auf die gleichnamige FRONTLINE-Dokumentation aus dem Jahr 1998, die vom Public Broadcasting Service (PBS) vertrieben wurde. Diese behandelt das Versagen der Vereinten Nationen hinsichtlich des Völkermords in Ruanda. Trotz zahlreicher Warnungen griffen diese nicht ein. Innerhalb von 100 Tagen, zwischen Anfang April und Anfang Juli 1994, ermordeten radikale Hutu rund 800.000 Tutsi und moderate Hutu.[1] In Tony Cokes Arbeit sind Auszüge der Befragung der Sprecherin des US-Außenministeriums, Christine Shelly, während einer Konferenz vom 10. Juni 1994 zu lesen.[2] Shelly vermeidet gezielt die Verwendung des Begriffs „Genozid“ und benennt die Ereignisse lediglich als „Akte des Genozids“. Durch Anerkennung der Taten als Genozid wäre die UN gezwungen gewesen einzuschreiten. Heute steht fest, dass das Wegsehen zu den Ausmaßen der Vernichtung beigetragen hat.

Historisch hat auch die deutsche Kolonialpolitik Anteil an dem Konflikt. Von 1984 bis 1916 war Ruanda eine deutsche Kolonie, in der die Kolonisator*innen Hierarchien zwischen den existierenden Bevölkerungsgruppen festigten, indem sie die Tutsi aufgrund ihres Äußeren als „europäischer“ und damit als überlegenere Gruppe etablierten. So entstanden bis heute existierende gesellschaftliche Strukturen. Als nach dem zweiten Weltkrieg Belgien die Kolonie übernahm, wurden Konflikte zwischen den beiden Ethnien weiter geschürt, die 1994 eskalierten.[3] Deutschland stand durch seine „Entwicklungsarbeit“ während der beginnenden Ausschreitungen in stetigem Austausch mit Ruanda. Interne Warnungen wurden von den deutschen Behörden im Land ignoriert.[4]

Die blau-rote Farbgebung in Tony Cokes The Triumph of Evil weckt zunächst Assoziationen zur US-amerikanischen Flagge.[5] Cokes äußert in diesem Zusammenhang, dass die Farbauswahl als „parody of the US 1 Studiengalerie 1.357 flag’s emergence as a ubiquitous and disturbing patriotic symbol post-9/11“[6] interpretiert werden kann. Das Transkript wird mit weißer Schrift auf blauem Hintergrund wiedergegeben und durch rote monochrome Frames blitzartig unterbrochen. Diese regelmäßigen Zäsuren können als Sinnbilder des Blutvergießens gelesen werden. Eine neutrale Wiedergabe von Fakten wird am Ende der Arbeit durch weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund signalisiert. Der Künstler verzichtet auf explizite Gewalt- und Schockbilder, um dem „known visual vocabulary of war, terrorism, and torture“[7] entgegenzuwirken. Auch eine Nähe zur Ästhetik von Musikvideos wird durch den Verzicht auf Bildmaterial vermieden.

Tony Cokes kombiniert den Inhalt der Texte mit den Songs Lounge Act, Rape Me und Territorial Pissings der weißen US-amerikanischen Grunge-Band Nirvana. Der Sound fungiert nicht als musikalischer Hintergrund, sondern tritt als Störfaktor auf, der den Rezipierenden eine Konzentration auf das Visuelle verwehrt und ein mehrmaliges Betrachten fordert. Rape Me, von Frontmann Kurt Cobain als Anti-Vergewaltigungssong bezeichnet,[8] und Territorial Pissings, eine Kritik an patriarchalen Machtgefügen und territorialen Grenzansprüchen, können inhaltlich in Verbindung mit den Menschenrechtsverletzungen in Ruanda gebracht werden.

Aber Tony Cokes stellt auch den Personenkult um Cobain, eine weiße Berühmtheit des Globalen Nordens, dem Genozid an einer afrikanischen Ethnie im Globalen Süden gegenüber. Der Künstler adressiert somit verzerrende Mediendynamiken sowie Auswirkungen der Kolonialisierung. Cobains Selbstmord im Jahre 1994 wurde zeitgleich mit dem Beginn des Völkermords publik. Meldungen über Cobain überlagerten die Berichte aus Ruanda. Cokes‘ Kombination von Songs einer weißen Musikband mit der Weigerung den Genozid als diesen anzuerkennen, muss als Kritik an Gewalt verstanden werden, jedoch lässt der aggressiv aufgeladene Sound, der die Texte über den Völkermord immer wieder überspielt, die Rezipierenden in einem Zwiespalt zurück.

– Lena Fries & Florina Klubach

[1] Brockmeier, Sarah: Deutschland und der Völkermord in Ruanda, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin 2014, S. 4.
[2] The Triumph of Evil. 100 days of slaughter. A Chronology of U.S./U.N. Actions, in: pbs.org. URL: https://www.pbs.org/wgbh/pages/frontline/ shows/evil/etc/slaughter.html
[3] Brockmeier, S. 7.
[4] Ebd., S. 6.
[5] Is evil something you are, or something you do? Tony Cokes and Attilia Fattori Franchini in Conversation, in: Mousse Magazine 66 (2019), S. 92.
[6] Ebd.
[7] Smith, William S.: Imaginative Resources. An Interview with Tony Cokes, in: ARTnews.com, 2021. URL: https://www.artnews.com/art-in-america/ interviews/imaginative-resources-tony-cokes-interview-1234590582/
[8] Taysom, Joe: Kurt Cobain’s comments on rape from the ’90s are still so important now, in: faroutmagazine.com, 2020. URL: https://faroutmagazine.co.uk/kurt-cobain-nirvana-rape-me-polly-sexual-assault-culture/

 

In Evil.13 (The Triumph of Evil) setzt sich Cokes mit dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994 auseinander und mit dessen Auswirkungen auf die sogenannten „abendländischen“ Demokratien. Dabei arbeitet er mit einer reduzierten Palette einfacher Elemente: Vor abwechselnd blauen und roten Hintergründen erscheinen Auszüge aus einer Pressekonferenz der damaligen Sprecherin des US-Außenministeriums Christine Shelly.

Zu dem Video laufen Lieder der Band Nirvana. Der Leadsänger Kurt Cobain beging im selben Jahr des Völkermords Suizid – eine Nachricht, die die Schlagzeilen der Medien weltweit dominierte. Farben, Text und Lieder kollidieren und bringen ein wirkmächtiges Gesamtbild hervor. Mit seinen Fragen bedrängt ein Journalist Christine Shelly, die jedoch nur diffuse Antworten gibt. Dies kontrastiert mit den expliziten Texten der Nirvana-Songs. Die Musik ist auch ein Störfaktor, sie strapaziert die Zuschauer:innen bei der Lektüre. Cokes hinterfragt die an Massenkonsum orientierte Nachrichtenkultur der damaligen Zeit mit ihren eigenen Strategien. Er zeigt die Mechanismen einer Kommunikationspraxis, die zur Meinungssteuerung neigt – ein Vorbote des postfaktischen Populismus.

Dem Problem einen Namen zu geben bedeutet, das Problem anzuerkennen. Die Ausflüchte Christine Shellys offenbaren die Verantwortung der USA im Völkermord Ruandas. Der Konflikt, der zu einem Massaker von 800.000 Menschen führte, lässt sich auch auf die Kolonialpolitik des globalen Nordens zurückführen. Dieses Werk ist ein Appell, die noch bestehenden Kolonialformen und die Mechanismen des Kapitalismus in Frage zu stellen.

– Pau R. Bernat

 

Am Seminar der Studiengalerie 1.357 im Wintersemester 2022/23 haben teilgenommen: Jiaheng Yu, Anna Schulz, Monique Burandt, Radia Soukni, Dalwin Kryeziu, Jeanne Nzakizabandi, Ecehan Isik, Alexander Rauch, Lukas Picard, Samuel Kuhnle, Nina Guardian, Lilly Lüders, Aaliyah Lauterkranz, Emma Bieck, Pau Ruiz Bernat, Marie-Luiza Georgi, Paula Martin, Florina Klubach, Theodora Kiriakidou, Lena Fries, Amelie Kleinhubbert, Carolin Tüngler, Alena Beyer, Lea Goehring, Jelena Matičić Die Studiengalerie 1.357 ist eine Kooperation des Städel Museums, des Museum MMK für Moderne Kunst Frankfurt und des Forschungszentrums für Historische Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie realisiert pro Jahr vier Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst.

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